Mittwoch, 29. Februar 2012

Ein Stopp für Initiativen, die gegen Grundrechte verstossen

Heute hat der Ständerat mit Stichentscheid des Präsidenten - also sehr knapp - entschieden, dass Volksinitiativen künftig für ungültig erklärt werden können, wenn sie den Kern der Grundrechte (aus der Verfassung oder aus dem Internationalen Recht, z.B. der Europäischen Menschenrechtskonvention) verletzen.
(Zeitungsbericht zur Debatte im Ständerat)

Hintergrund dieses Beschlusses ist das Unbehagen eines Teils der classe politique, aber in diesem Fall vor allem der classe juridique darüber, dass das Volk  sich in den letzten Jahren dreimal erfrecht hat, seine Kontrollfunktion (bekanntlich der einzig stichhaltige Grund für das System der Demokratie) wahrzunehmen und den Behörden mit grenzwertigen Volksinitiativen die rote Karte zu zeigen. Einmal ging es um die Verwahrung von gemeingefährlichen Straftätern, ein anderes Mal um die Ausschaffung von straffälligen Ausländern und drittens um das Minarettverbot.

In allen drei Fällen sind die Bestimmungen der vom Volk nach heftigem Abstimmungskampf angenommenen Initiativen im Detail problematisch. Das sei hier keineswegs bestritten. In allen drei Fällen gäbe es garantiert auch tauglichere Lösungen für das eigentliche Problem. Gäbe - wenn denn Politik und Justizbehörden wenigstens den Wink mit dem Zaunpfahl ein bisschen Ernst nehmen und sich selbstkritisch fragen würden, warum eine, wenn auch nicht allzu grosse, Mehrheit der Stimmberechtigten den etwas grobschlächtigen Zaunpfahl ausgerissen hat und damit wild herumfuchtelt. Tun sie aber nicht. Sie lamentieren über die, wie gesagt zugegebenermassen in der Praxis nicht besonders tauglichen Lösungsansätze der Initiativen und dass "der Mob" (steht so in einigen Zeitungsartikeln) diese Initiativen trotz aller Warnungen der ach so intelligeten classe politique und classe juridique in seiner Dummheit trotzdem in der Volksabstimmung angenommen hat.

Und die Politik sucht nach Mitteln, solche Initiativen in Zukunft zu unterbinden. Im Klartext und pointiert formuliert: die classe politique und die classe juridique in diesem Lande verdrängen die Probleme auch nach drei verlorenen Abstimmungen und zeigen sich unfähig, mit der Kritik des Volkes an ihrer Amtsführung vernünftig und als erwachsene Menschen umzugehen.

In der Debatte, wie sie von der classe politique und - bislang noch - von einer grossen Mehrheit der professionellen Journalisten (also der in modernen Demokratien faktisch als notwendig anerkannten vierten Gewalt im Staat) geführt wird, betonen die "Profis" immer wieder, dass die Grundrechte unantastbar seien und gegen die Willkür basisdemokratischer Hauruck-Lösungen geschützt werden müssten. Tönt gut. Ist leider aber nur die halbe Wahrheit und greift als solche viel zu kurz.

Mir fehlt hier eine Auseinandersetzung mit den Grundrechten als solchen und mit dem, was Juristen in jedem halbwegs anspruchsvollen Fall tun müssen (wenn alles ganz klar wäre,  wären sie nämlich überflüssig): Es braucht hier eine Güterabwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern, in diesem Fall zwischen  verschiedenen Grundrechten. Und die haben nun mal nicht alle das gleiche Gewicht. Zumindest nicht in Europa.

Am klarsten ist der Fall bei der Verwahrungsinitiative. Von Seiten des Justizapparates kommt hier immer das Argument, auch ein Schwerverbrecher (andere Leute verwahrt man ja ohnehin nicht) habe ein Recht darauf, dass seine Verwahrung periodisch überprüft werde. Das ist an sich ok, allerdings setzt die "böse", vom Volk angenommene Verwahrungsinitiative genau hier an und lässt eine Überprüfung nur noch zu, wenn neue Therapiemethoden entwickelt werden, die endlich mehr Therapieerfolg bringen. Das wird dem einzelnen Straftäter nicht gerecht, und ist somit der falsche Lösungsansatz. Das bestreite ich gar nicht.

Fakt ist allerdings auch, dass seit Jahrzehnten immer wieder rückfällige Serientäter auf Hafturlaub oder im halboffenen oder offenen Strafvollzug (der nach offizieller Lesart ihrer Resozialisierung dienen soll) rückfällig geworden sind und weitere Opfer vergewaltigt und/oder umgebracht haben. Es dürfte hier schwierig sein, eine Mitschuld (im Sinne der Fahrlässigkeit) des Justizapparates zu verneinen, der die Gefährlichkeit der beurlaubten oder in den offenen Strafvollzug versetzten Täter unterschätzt hat.

Aktuell wurde ebenfalls heute gerade einmal mehr ein erstinstanzliches Urteil gegen einen rückfälligen Täter gefällt, der eine junge Frau mit dem Versprechen, von ihr Model-Fotos zu machen, in seine Wohnung gelockt und sie dort ermordet hat. Und das erstinstanzliche Gericht hat wieder keine lebenslängliche Verwahrung ausgesprochen. Ein Rückfall scheint also für diese Richter zuwenig Grund, an der Therapierbarkeit des Täters zu zweifeln.
(Zeitungsbericht zum Prozess)

Was meine ich in diesem Zusammenhang mit Güterabwägung?
Eigentlich haben wir alle ein Menschenrecht auf Leben (jedenfalls darauf, dieses nicht auf unnatürliche Weise zu verlieren) und auf körperliche Unversehrtheit. Ich halte diese beiden Grundrechte für absolut übergeordnet allen anderen Rechten. Wenn wir in Europa die Todesstrafe abgeschafft haben, dann heisst das doch nichts anderes, als dass das Grundrecht auf Leben in Europa über allen "guten" Gründen steht, die aussereuropäische Staaten für die Verhängung der Todesstrafe anführen mögen. Weshalb sollte das Grundrecht auf Leben eines jeden Opfers von Gewaltverbrechen dann nicht auch über dem Recht eines gemeingefährlichen, rechtmässig und zweifelsfrei für schuldig befundenen Gewaltverbrechers stehen, nach einer gewissen Zeit auf Bewährung aus dem Knast heraus zu kommen? Gibt es überhaupt ein solches Recht des Straftäters auf Bewegungsfreiheit in der EMRK?

Kann mir hier jemand erklären, weshalb die Bewegungsfreiheit des Gewaltverbrechers, der mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein Opfer umbringen wird, dann doch höher zu gewichten sei als das Leben seines nächsten Opfers?

In diesem Punkt sind von den Vertretern der classe politique und der classe juridique seit Jahren keine vernünftigen Argumente vorgebracht worden, man vermeidet es im Gegenteil ganz grundsätzlich, die Frage auf dieser Ebene öffentlich zu diskutieren. Wahrscheinlich weil die Antwort allzu klar wäre. Und unbequem, ja geradezu peinlich. Weil die Antwort auf das Eingeständnis herauslaufen würde, dass der Strafvollzug in der Schweiz vor lauter gut gemeinten Bemühungen zur Resozialisierung von Straftätern und zur Einhaltung der Menschenrechte im Strafvollzug in den letzten Jahrzehnten die grundlegenden Menschenrechte der "normalen" Bevölkerung etwas aus den Augen verloren hat.

Eigentlich braucht es keine so absolute Bestimmung über die effektiv im Wortsinne lebenslängliche Verwahrung  von untherapierbaren Gewalttätern wie sie in der Volksinitiative und nach deren Annahme nun in der Verfassung steht. Eigentlich braucht es nur etwas mehr Augenmass im Justizvollzug. Und eine klare Unterscheidung zwischen "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten - falls dessen Schuld nicht klar nachgewiesen werden kann ist das ja wirklich sinnvoll) - und "in dubio gegen den rechtsgültig Verurteilten" - (falls dessen Therapieerfolg nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann). Positiv formuliert: Im Zweifelsfall für den Schutz der Bevölkerung vor rückfallgefährdeten verurteilten Gewaltverbrechern. Das würde genügen. Mehr braucht es nicht. Aber auch nicht weniger. Nicht wegen der angeblichen emotionalen Inkompetenz des Mobs, sondern wegen der Menschenrechte. Das sollten die selbsternannten Verteidiger der Grund- und Menschenrechte bedenken und vor allem beherzigen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen