Sonntag, 12. Februar 2012

Wer am effektivsten kommuniziert vertritt nicht automatisch die Mehrheit

In diesen Tagen jährt sich sowohl die iranische Revolution (33 Jahre - 1979) als auch der Sturz des ägyptischen Diktators Mubarak (1 Jahr). So unterschiedlich die Ausgangslage gewesen sein mag - es gibt Parallelen dieser beiden modernen Revolutionen in der islamischenWelt untereinander wie auch zu den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Europa (Frankreich, Schweiz).


Zunächst einmal: Eine Revolution nährt Hoffnungen, die zu erfüllen eine fast unlösbare Aufgabe ist - schon rein organisatorisch bzw. vom reinen Arbeitsaufwand her, der in den Aufbau neuer politischer Strukturen und einer neuen, demokratisch kontrollierten Verwaltung und Armee/Polizei gesteckt werden muss - ganz abgesehen von den Machtkämpfen zwischen verschiedenen Fraktionen der Revolutionäre. Es ist einfach zu erkennen, dass die alte Ordnung total ungerecht ist/war, es ist viel schwieriger zu definieren, wie die neue Ordnung sein soll, damit es wirklich besser wird.

In Europa war das vor 200 Jahren nicht anders und schon gar nicht besser. Die französische und die helvetische (schweizerische) Revolution sind genau an diesem Problem gescheitert.
Zur Helvetischen Revolution und ihrem Scheitern

Zudem wird oft übersehen: Wer am lautesten schreit bzw. am geschicktesten kommuniziert, vertritt noch nicht unbedingt die Mehrheit. In Ägypten haben Revolutionäre aus den unterschiedlichsten politischen Lagern gemeinsam erfolgreich gegen Mubarak gekämpft - aber es ist unübersehbar, dass es sich dabei vor allem um junge und gut ausgebildete Leute aus den Städten handelte. Bei den Wahlen dagegen war - so ist Demokratie nun mal - die ganze Bevölkerung gefragt, auch die älteren Leute und die ländliche Bevölkerung. Und es hat sich gezeigt, dass die Bevölkerungsmehrheit zunächst mal verunsichert ist und eine Ordnung wünscht, die irgendwie bekannt und vertraut ist und eine gewisse Stabilität verspricht. Im arabischen und speziell im ägyptischen Umfeld scheinen die Muslimbrüder mit dem starken religiösen Bezug diesem Bedürfnis besser zu entsprechen als junge Revolutionäre, die radikale (an den Wurzeln der Gesellschaftsordnung ansetzende) Reformen fordern.
Zur aktuellen Situation in Ägypten

Auch in Europa haben zunächst die Konservativen die Revolution beerbt und es hat mehr als eine Generation gedauert, bis man es gewagt hat, es nochmals mit einer grundlegend neuen Gesellschaftsordnung zu versuchen (französische Revolution 1789, helvetische Revolution 1798, neue Anläufe in beiden Ländern 1830-31 und 1848).

Wo die Lebensbedingungen für die Mehrheit bequem genug sind, stellt sich das Problem der Beteiligung anders als in einer Diktatur oder absolutistischen Monarchie. Es sind dann nicht die Mutigsten oder Verzweifeltesten, die durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit auf ihre Anliegen aufmerksam machen wollen, sondern Minderheiten, die sich zu Recht oder zu Unrecht von der Mehrheit diskrimiert fühlen oder auch nur andere gesellschaftspolitische Vorstellungen vertreten als die Mehrheit und einen missionarischen Eifer dafür entwickeln.

In der harmloseren Form "missbrauchen" kleine Gruppen, z.B. Sport- und Turnvereine die in der Schweiz in kleineren Gemeinden weit verbreitete basisdemokratische Institution der Gemeindeversammlung dazu, durch geschickte Mobilisierung ihrer Anhängerschaft und Ausnützung der Trägheit der Mehrheit formaljuristisch korrekte Entscheidungen für den Bau und/oder die Subventionierung von öffentlichen Infrastrukturen zu erreichen, deren Nutzen für die breitere Allgemeinheit fraglich ist. So können in einem Dorf mit 3000 wahlberechtigten Einwohnern drei Vereine mit 150 Mitgliedern und einigen Familienmitgliedern und Freunden schon mal 300 Stimmen mobilisieren und damit 2700 "Normalbürger" überstimmen, von denen sich nur 10% aufraffen, für die Ausübung ihres Stimmrechtes einen ganzen Abend "zu opfern".

Ähnliches - aber mit schlimmeren Auswirkungen befürchten nun gemässigte Muslime in der Schweiz von der Idee, eine Art "demokratische Vertretung" der Muslime in der Schweiz zu schaffen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Befürchtung, dass besonders aktive, eher traditionalistische Muslime in einem solchen Gremium infolge der "Wahlfaulheit" der gemässigten Leute übervertreten wären und dies aunützen würden, um extreme Positionen als "Meinung der Muslime in der Schweiz" zu vertreten.

«Irritierend» sei das Projekt eines muslimischen Parlaments, sagt Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam gegenüber der Tageszeitung "Tagesanzeiger". Das Grundproblem liege darin, dass alle islamischen Verbände insgesamt nur 10 bis 15 Prozent aller Muslime in der Schweiz vertreten, «jene, die in die Moschee gehen».
Bedenken liberaler Muslime in der Schweiz gegen eine pseudodemokratische Muslimvertretung

Schlimmer als bei der Durchsetzung partikularer Interessen an einer Gemeindeversammlung wären die Auswirkungen in diesem Fall, weil es dabei nicht nur um die Verteilung öffentlicher Mittel geht, die in einem reichen Land zwar nicht unbegrenzt, aber doch reichlich zur Verfügung stehen, sondern darum, dass eine Minderheit in der Minderheit mit ihren extremen Aussagen die Mehrheit in der Meinung bestärken könnte, dass alle Muslime Extremisten sind. Dass dies im Alltag nicht unbedingt zu einem besseren Einvernehmen zwischen der Mehrheit und der Minderheit führt, scheint mir ziemlich nahe liegend.

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