Mittwoch, 11. April 2012

Herdentrieb oder Nützlichkeitsorientierung?

Der Ökonom Werner Vontobel stellt die Grundannahme der klassischen Wirtschaftstheorie radikal in Frage:
Die Menschen würden nicht ihren Nutzen maximieren, wie die Vordenker der modernen Ökonomie gemeint haben, sondern sie seien schlicht und einfach Herdentiere, die dem Leithammel folgen und bestenfalls nacheifern.
http://www.blick.ch/news/wirtschaft/vontobel/warum-reiche-reicher-werden-id1841769.html

So einfach dürfte es nicht sein. Einerseits folgen diejenigen, die gemäss Vontobels Theorie die Rolle der Leithammel spielen, ja nicht einfach irgendwelchen festen Ritualen wie Leithammel beim Kampf um die Führungsposition in der Herde. Vielmehr lassen sie sich durchaus einiges einfallen, um mit neuen Produkten, Verkaufsmethoden oder Finanzinstrumenten am Markt einen Vorteil zu haben. Auch das hat die Finanzkrise eindrücklich genug gezeigt.

Andererseits folgen bei weitem nicht alle brav den Leithammeln, sondern es gibt sehr viele ganz unterschiedliche Strömungen in der modernen Gesellschaft, die man nicht einfach über einen Kamm scheren kann. Vor allem orientieren sich die meisten Leute bei ihren Entscheiden nicht ausschliesslich an wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern auch an Gefühlen, Werten (z.B. Solidarität), Überzeugungen usw.

Recht hat Vontobel insofern, als das Nützlichkeitsprinzip tatsächlich viel zu plump ist, um das wirtschaftliche Handeln der Menschen angemessen zu erklären. Allerdings bringt es nichts, die jahrhundertealte grobe Vereinfachung durch ein auch nicht eben furchtbar "neues" und vor allem ebenso plumpes Prinzip zu ersetzen.

Die Frage ist auch nicht, ob die Wirtschaft sich selbst steuert, wenn ihr die Politik nicht dreinredet - das tut sie nämlich sehr wohl: die Stärkeren setzen sich dann einfach durch. Das ist genau so wie in der Natur. Die Frage ist, ob wir Menschen das so wollen. Und wie wir reagieren, wenn das Recht des Stärkeren - ohne Regulierung durch die Politik - konsequent auf die Spitze getrieben wird.

Ein Blick auf die Weltpolitik und die Geschichte zeigt: Wenn die Ungleichheit zu gross wird, suchen die Menschen irgendeine Form des Ausgleichs. Bietet die Politik eine "zivilisierte" Möglichkeit dazu an, z.B. indem auf demokratischem Weg Gesetze erlassen werden, die die schlimmsten Auswüchse einschränken, dann wird diese Möglichkeit auch genutzt. Ist das politische System dagegen so erstarrt, dass Veränderungen auf diesem Weg nicht möglich sind, dann steigt der Druck so lange an, bis es zu einer gewaltsamen Veränderung kommt, wie letztes Jahr in Nordafrika (Aegypten, Tunesien, Libyen) oder vor gut zweihundert Jahren in Europa (Französische Revolution, Helvetische Revolution 1798).

Bei der Revolutionsvariante gibt es in aller Regel viele Tote, grosse Zerstörungen und meist auch neue Ungerechtigkeit; nur in den seltensten Fällen entsteht direkt nach einer Revolution eine stabile und gerechte neue Gesellschaftsordnung, kurzum: es gibt fast nur Verlierer. Das wissen auch die meisten Leute - so dumm wie Herdentiere, wie Vontobel unterstellt, sind sie nämlich nicht. Revolutionen gibt es deshalb nur dort, wo sehr viele Leute (fast) nichts mehr zu verlieren haben.

Vergleicht man die heutige Wirtschaft mit einer Klimaanlage, dann würde die Variante "Verelendung und Revolution" etwa dem Versuch entsprechen, mit einem Vulkan zu heizen. Zuerst wird es unerträglich heiss, dann kommt es zur Explosion und die in die Luft geschleuderte Asche verdunkelt die Sonne, es kühlt wieder ab - bis zu dem Punkt, wo es im Sommer schneit und im nasskalten Wetter alles verfault. Nicht eben das, was man von einer "Klimaanlage" erwarten würde.

Die mittelschwache "Regelung" der Wirtschaft wie wir sie in Westeuropa ungefähr seit dem zweiten Weltkrieg  erleben, liesse sich dagegen mit einem Kachelofen vergleichen, bei dem tüchtig eingeheizt wird, bis die ganze Wohnung überhitzt und die Luft total stickig ist (Hochkonjunktur, Arbeitskräftemangel). Dann reisst man die Fenster auf und lässt die Wohnung wieder abkühlen, bis alle frieren (Rezession, Arbeitslosigkeit). Und so geht das von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus. Auch noch nicht ganz das, was wir als angenehmes Raumklima empfinden. Aber immerhin wesentlich besser als beim Vulkan, um im Bild zu bleiben.

Die Heizungstechnik zeigt allerdings, dass man auch feiner regeln kann, wenn man a) will und b) sich ordentlich um die Verfeinerung der Regeltechnik bemüht. Vielleicht gelingt es den Ökonomen ja im 21. Jahrhundert, bei der Steuerung der Konjunktur einen wesentlichen Schritt vorwärts zu kommen. Derzeit sehe ich allerdings schon bei Punkt a), beim Willen, wenig ermutigende Anzeichen. Aber das kann sich ja noch ändern, oder in der Managersprache ausgedrückt: es ist noch sehr viel Potenzial vorhanden.

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