Dienstag, 3. September 2013


Lynchjustiz vs. selbstgefälliger Justizapparat



Lynchjustiz, ist schrecklich - aber wie kommt es eigentlich dazu?

Ein aktueller Fall aus Papua-Neuguinea wirft einmal mehr die Frage auf: Warum betreibt ein sogenannt "wütender Mob" Lynchjustiz?  (Mensch beachte die ganze Abschätzigkeit in der Wortwahl des Gutmenschen, der hier über den "Mob" urteilt!)
Wütender Mob kastriert und tötet Sektenführer

Vielleicht würde es sich lohnen zu fragen, weshalb wir nicht mehr im "finsteren Mittelalter" leben. Wegen der "Aufklärung" natürlich. Mir scheint, dass heute viele Leute - und gerade diejenigen, die sich über den "Mob" empören, ein ziemlich einseitiges und unvollständiges Bild von der Aufklärung haben. 

Im Mittelalter war man sich noch einig, dass Macht von Gott verliehen und deshalb auch gerechtfertigt (legitimiert) ist. Dann haben es die Herrschenden im Zeitalter des Absolutismus einerseits definitiv mit dem Machtmissbrauch in allen Schattierungen übertrieben und andererseits haben auch seit der Renaissance immer mehr Leute begonnen, althergebrachte "Selbstverständlichkeiten" zu hinterfragen. So konnte es nicht weiter gehen. Wenn aber die "Herrschaft von Gottes Gnaden" offensichtlich nicht taugt, was legitimiert Herrschaft dann?

Ein Teil der im 18. Jahrhundert gefundenen Antwort ist einigermassen im Bewusstsein geblieben: Das Volk legitimiert und kontrolliert die staatliche Macht (und zwar mittels der modernen Demokratie) und die Menschenrechte sind eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf. 

Der zweite Teil der Antwort scheint mir dagegen ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein: Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau hat ihn unter dem Titel "Contrat Social" mehr skizziert als wirklich ausführlich beschrieben. (Originaltext: Rousseau, Du Contrat Social) Nun mag man zu Recht an seiner Skizze allerlei  Unausgegorenes kritisieren. Dennoch sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und den Grundgedanken mal nachvollziehen:

Der moderne Staat beruht auf einem - leider nirgendwo explizit formulierten und deshalb auch nicht "unterschriebenen" - Gesellschaftsvertrag, dessen Inhalt mangels expliziter Formulierung natürlich noch weitaus mehr Interpretationsspielraum offen lässt als die heute üblichen, von ganzen Juristenscharen monatelang ausgeklügelten staatlichen und privatwirtschaftlichen Verträge.

Dennoch, auch ein "mündlich" oder "per Handschlag" geschlossener Vertrag ist ein gültiger Vertrag. Und wenn ein Vertragspartner ihn bricht, dann hat der andere das Recht, ihn einzuklagen. Wenn zwei Private sich streiten, dann bietet der Staat dafür die Lösung: Privatklagen vor den zuständigen Gerichten. Wenn aber das Volk gegen den Staat bzw. dessen Repräsentanten klagen müsste, weil die ihren Job nicht so machen, wie es im Gesellschaftsvertrag abgemacht war, dann wird es offensichtlich schwierig.

Betrachten wir nun das Thema "Lynchjustiz" oder allgemeiner "Selbstjustiz" aus dieser Warte: Historisch ist klar, dass der Einzelne (und damit auch das Volk als Summe von Einzelnen) im modernen Staat auf das "Naturrecht" zur eigenmächtigen Durchsetzung seiner Interessen verzichtet bzw. verzichten muss. Insbesondere auf Selbstjustiz, aber auch auf "Blutrache", "Ehrenmorde" und dergleichen. Das schien uns Westeuropäern lange selbstverständlich zu sein (mit Ausnahme einiger Promille der Bevölkerung, die wir als asoziale Wesen betrachten). Ist es aber in anderen Kulturen bis heute offensichtlich nicht, weil dort die Aufklärung zumindest nicht im gleichen Masse im "kollektiven Bewusstsein" verankert ist wie in Europa. Gewalt darf im modernen Rechtsstaat legitim immer nur vom Staat ausgeübt werden, nicht vom Einzelnen. Auch wenn sein Gegner ihm schlimmstes Unrecht angetan hat. Nix mehr mit "Auge um Auge", Blutrache und so. So weit so klar, zumindestens in Westeuropa.

Was aber ist die Gegenleistung des Staates für den Gewaltverzicht der Bürger? Ein Vertrag, auch ein Gesellschaftsvertrag, ist nämlich ein Unding, wenn der eine nur Pflichten und der andere nur Rechte hat. Nun, der Staat bzw. dessen Repräsentanten, haben sich auch Pflichten eingehandelt: 

1. Die Staatsgewalt darf nur unter Einhaltung von strengen Regeln ausgeübt werden. Insbesondere darf keine Willkür im Spiel sein und es müssen alle vor dem Gesetz gleich behandelt werden. Unterschiede darf der Staat nicht wegen der Herkunft oder wegen des Geschlechts machen, akzeptiert ist dagegen, dass Jugendliche anders behandelt werden als Erwachsene (Jugendstrafrecht) und psychisch Kranke anders als voll zurechnungsfähige. Dieses Prinzip ist allen bekannt und wenn es mal verletzt wird, was ab und zu vorkommt, dann gibt es auch einen Skandal und hat zumindest gewisse Konsequenzen für die fehlbaren Staatsdiener. 

Wichtig ist hier: Während im Mittelalter oft willkürlich von Unschuldigen Geständnisse unter Folter erpresst wurden, einfach um einen Schuldigen zu haben (auch für "Naturkatastrophen" wie Erdbeben, Pestepidemien und dergleichen) oder weil der Herrscher etwas gegen ihn hatte, schützt dieser erste Punkt vor allem den unschuldig Angeklagten vor der staatlichen Willkür. Und in Europa (nicht im Rest der Welt!) hat auch der schlimmste Verbrecher das elementare Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Todesstrafe ist in Europa abgeschafft. So weit so gut.

2. Unausgesprochen, aber im Rechtsempfinden der Bevölkerung ebenso verankert ist allerdings die Kehrseite: Auch die unbescholtenen Bürger, nicht nur die Verbrecher, haben ein ebenso absolutes Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ist eigentlich logisch, oder? Für unser Justizsystem offensichtlich nicht. Denn wenn der Staat daraus die logische Konsequenz ziehen würden, müsste er die Bevölkerung zumindest wirksam vor zweifelsfrei überführten Verbrechern schützen, bei denen auch nur eine geringe Rückfallgefahr besteht. Und wenn der Staat diese Verbrecher nicht mit der Todesstrafe bestrafen kann, müsste er sie halt tatsächlich lebenslänglich "verwahren", nicht nur maximal 25 Jahre ins Gefängnis stecken und bei guter Führung schon nach weniger als 20 Jahren freilassen. Tut er aber nicht, die Rückfallquote ist erschreckend hoch.

Wie ist das zu beurteilen? Wer bis hierher folgen konnte/wollte, wird jetzt auch erkennen: der Staat ist in diesem "ungeschriebenen" Punkt des Gesellschaftsvertrages vertragsbrüchig. Und er lässt sich mit demokratischen Mitteln nicht einmal einklagen. Wie es scheint, weltweit nicht. 
Nicht einmal in der Direkten Demokratie der Schweiz mit einer Volksinitiative, die gemäss der Schweizerischen Bundesverfassung entsprechendes Verfassungsrecht schafft. In der Schweiz hat das Volk mit einer Volksabstimmung seine Sicht des Gesellschaftsvertrages vor wenigen Jahren sogar deutlich und "schriftlich" zum Ausdruck gebracht. Trotzdem haben Parlament, Regierung und Justiz der Schweiz seit Annahme der "Verwahrungsinitiative" so ziemlich alles Mögliche getan, um in der gesetzgeberischen und praktischen Umsetzung dieses Verfassungsauftrages denselbigen total zu verwässern. 

Fazit: Der Staat bzw. dessen Repräsentanten (Parlament, Regierung/Verwaltung, Justiz und in diesem Fall auch die Presse als "vierte Gewalt" in der modernen Demokratie) sind vertragsbrüchig und wundern sich, dass einige wütende Bürger nun auch vertragsbrüchig werden und zur Selbstjustiz greifen bzw. in die Selbstjustiz zurück fallen. Wie schrecklich. Genau: es ist schrecklich, es ist nicht entschuldbar. 

Aber statt nur mit dem Finger auf den "Mob" zu zeigen, wäre ein bisschen Selbstkritik der "Elite" angezeigt - der Parlamentarier, der Regierenden, der Verwaltungsbeamten, der Richter, der Justizbeamten und Sozialarbeiter im Strafvollzug und auch der Journalisten und Intellektuellen. Sie alle sind ebenso vertragsbrüchig wie der "Mob". 

Im Gegensatz zum "Mob", der sich sehr wohl bewusst ist, dass er aus Verzweiflung eine Grenze überschreitet, merken die Angehörigen der Elite nicht mal, dass sie Unrecht begehen und ihre Pflichten verletzen. Das ist ebenso schrecklich. Das tötet auch - zwar keine Verbrecher (und manchmal auch Unschuldige, die der "Mob" für Verbrecher hält), sondern tatsächlich Unschuldige, die einem Sexulstraftäter, Amokläufer, Sektenguru etc. in die Fänge bzw. vor die Flinte laufen. 

Genau jene Kreise von "Gutmenschen" mit meist links-grüner politischer Überzeugung, die betreffend der laschen Haltung gegenüber verurteilten Gewaltverbrechern mehr als nur einen blinden Fleck im Auge haben, prangern seit 1968 mit Slogans wie "Ne**** tötet Babies" oder "Ap*** tötet chinesische Arbeiter" (die Namen der multinationalen Firmen sind so austauschbar wie die konkreten Slogans) die "verdeckten" Folgen von wirtschaftlicher Tätigkeit an und machen damit bewusst, dass gewisse Entscheidungen de facto Menschen töten, auch wenn die Verantwortlichen dies weder bedenken und schon gar nicht ausdrücklich wollen. 

Genau das passiert auch, wenn man rückfallgefährdete Verbrecher nach wenigen Jahren Gefängnisstrafe laufen lässt. Eigentlich offensichtlich. Offenbar nicht für alle. Dummerweise nicht für jene, die die Schlüssel zu den Gefängnistoren in den Händen halten. Dummerweise tödlich für Unschuldige. Deshalb: schrecklich. Genauso schrecklich wie Lynchjustiz. Nur halt ebenso verdeckt wie der Tod durch Babymilchpulver, das mit verseuchtem Wasser angerührt wird. Genau so unentschuldbar, besonders dann, wenn die "Täter" sich zur "Elite" zählen und denken, sie seien intelligenter und zivilisierter als der "Mob".