Donnerstag, 19. April 2012

Der Euro ist eine Fehlkonstruktion - aber Europa will es nicht wahrhaben

Bei Diskussionen mit Kollegen, die wie ich nicht Wirtschaft studiert haben, sondern als Ingenieure arbeiten, fällt mir immer wieder auf, dass wir zwar "allgemein gebildeten", aber eben nicht auf Ökonomie spezialisierten Zeitgenossen kein allzu tiefes Verständnis von grundlegenden volkswirtschaftlichen Vorgängen haben. Ich fürchte, vielen Politikern geht dasselbe in ähnlichem Masse ab. Vielleicht müsste man der Ökonomie etwas mehr Gewicht an den Mittelschulen geben ... aber darüber will ich heute gar nicht schreiben.

Aufgefallen ist mir das Problem anhand der Eurokrise. Ein wichtiger Aspekt und eine wichtige Ursache der Eurokrise ist die Tatsache, dass man bei der Einführung ohne (auch nur ansatzweise genügende) flankierende Massnahmen die Marktmechanismen des Währungsmarktes ausgehebelt hat. Und sowas tut man nicht ungestraft. Bekannt ist, dass man eine Schuldengrenze (Stabilitätsziel) definiert hat, die europäischen Politiker aber weitaus erfinderischer darin sind, diese trickreich zu umgehen als Wege zu finden, um sie einzuhalten. Das erzürnt diejenigen, die sich daran halten (aber auch nicht immer daran gehalten haben) insbesondere die deutsche Bundesregierung. Aber auch das ist noch nicht der wichtige Punkt, denn der Staatshaushalt ist ja nur ein Teil der ganzen Volkswirtschaft (jedenfalls in einer westlichen Marktwirtschaft, im Gegensatz etwa zu Kuba oder zur DDR).

Ein grösseres Gewicht hat - zumindest im "Westen" der "private" Wirtschaftssektor. Und der besteht aus Betrieben, die Waren herstellen, Handelsfirmen und KonsumentInnen. Und auch wenn man der klassischen ökonomischen Theorie kritisch gegenüber steht, ist doch einleuchtend: Wenn viele Leute ein Produkt haben wollen, und davon wenig hergestellt wird (oder ein Monopolanbieter die Menge künstlich knapp halten kann, oder ein Kartell die Preise abspricht), dann steigt der Preis mit der Nachfrage. Umgekehrt versuchen die meisten Handelsfirmen ihre "Ladenhüter" durch Preisnachlässe attraktiver zu machen.
Um Missverständnissen vorzubeugen sei hier noch erwähnt, dass auch Hotelübernachtungen und Dienstleistungen wie Haareschneiden natürlich im erwähnten Sinne "Produkte" sind. Es gibt Länder, wie die Schweiz oder Griechenland, wo solche Dienstleistungen einen grossen Teil der "verkauften Produkte" ausmachen.

Was hat das mit Währungen zu tun? Im internationalen Handel (auch wenn ich selbst über die Grenze einkaufen gehe) muss ich erst mal bei der Bank Geld in fremden Währung kaufen, bevor ich damit im Ausland ein Produkt kaufen kann. Das gilt auch für den Hersteller von Waren, für die er ausländische Rohstoffe einkaufen muss usw.

Umgekehrt braucht ein Hersteller, der ein Produkt ins Ausland verkauft (exportiert) Geld in der einheimischen Währung um Löhne und sonstige Kosten zu bezahlen, die im eigenen Land anfallen. Er muss also mit den Einnahmen aus dem Export wieder "eigene Währung kaufen".

Wenn ein Land gleich viel exportiert wie importiert, dann spricht man von einer ausgeglichenen Handelsbilanz und wenn diese Verhältnisse gegenüber den Handelspartnern stabil bleiben, bleibt auch die Nachfrage nach Währungs-Umtauschgeschäften im Gleichgewicht, d.h. der Wechselkurs zwischen den Währungen bleibt stabil. Gehen Importe und Exporte allerdings zu sehr auseinander, dann konsumieren die einen das, was die anderen herstellen, ohne dafür einen Gegenwert zu liefern. Auf dem Markt funktioniert sowas nicht. Der Markt gleicht das Ungleichgewicht allerdings nicht direkt, sondern indirekt aus: Die Nachfrage nach der Währung eines Landes mit grossem Exportüberschuss steigt, weil ja alle diese Währung brauchen, um die (begehrten) Produkte zu kaufen. Umgekehrt sinkt die Nachfrage nach Währungen von Ländern mit Importüberschuss.

Wenn Währungen an den Finanzmärkten gehandelt werden, dann spielt sich durch den Handel mit den Währungen über den Mechanismus von Nachfrage, Angebot und Preis ein neuer Wechselkurs ein: die Währungen der Exportriesen werden teurer, ihre Produkte damit auch, die Währungen der Länder mit Importüberschuss werden billiger, deren Produkte damit auch - jedenfalls im Aussenhandel. Im Prinzip müsste in einer Welt der Schnäppchen-Jäger somit die Nachfrage nach den billiger gewordenen Produkten steigen und die nach den teuerer gewordenen Produkten sinken. So ergibt sich ein - ständig neu ausgehandeltes Gleichgewicht.

Die Sache hat allerdings einen Haken, der gerade im Fall der Schweiz nicht unbedeutend ist: wenn über längere Zeit ausländische Investoren mehr Geld in der Schweiz anlegen wollen als sie wieder abziehen, dann löst auch das eine "Nachfrage" nach Schweizer Franken aus, d.h. der Franken wird "teurer". Das ist allerdings ein Effekt, der innerhalb der Eurozone eine viel geringere Bedeutung hat als gegenüber der Schweiz und den ich deshalb hier nicht weiter betrachten will.

Was ist nun mit der Einführung des Euros passiert? Wer vor der Einführung jahrzehntelang ab und zu Ferien am Mittelmeer gemacht hat, erinnert sich noch daran, dass der Wechselkurs der italienischen Lira und der griechischen Drachme von Jahr zu Jahr gesunken ist. Offensichtlich hat der Währungsmarkt hier Ungleichgewichte im Handel (inkl. Dienstleistungen) immer wieder in die gleiche Richtung korrigiert.  Dieses Prinzip hat nicht schlecht funktioniert.

Mit der Einführung des Euro wurde der Ausgleich über den Wechselkurs innerhalb der Eurozone einfach abgeschafft. Das kann nicht lange gut gehen. Vor allem, wenn es keinen direkten Ersatz für den abgeschafften Ausgleichsmechanismus gibt. Indirekt haben die "Eltern" des Euro wohl geglaubt, der freie Binnenmarkt und die Personenfreizügigkeit seien solche Ausgleichsmechanismus und würden genügen. So war es aber offensichtlich nicht.

Interessant ist, dass man immer nur von der Staatsverschuldung spricht und nur höchst selten über die Ungleichgewichte im innereuropäischen Handel mit Waren und Dienstleistungen, die - mangels Ausgleich über Wechselkurse - seit der Einführung des Euro nicht mehr ausgeglichen werden.

Als einfachem Zeitgenossen ist es mir rätselhaft, wie die volkswirtschaftlichen Spezialisten und Politiker in Europa diese einfachen Zusammenhänge so konsequent und so lange ignorieren können. Ein Grund dafür fällt mir ein: niemand möchte gerne zugeben, dass er sich geirrt hat. Lieber noch ein bisschen weiterwurschteln und hoffen, dass es sich mit der Zeit von selbst löst. Das ist allerdings keine besonders beruhigende Zukunftsperspektive.

Mittwoch, 11. April 2012

Herdentrieb oder Nützlichkeitsorientierung?

Der Ökonom Werner Vontobel stellt die Grundannahme der klassischen Wirtschaftstheorie radikal in Frage:
Die Menschen würden nicht ihren Nutzen maximieren, wie die Vordenker der modernen Ökonomie gemeint haben, sondern sie seien schlicht und einfach Herdentiere, die dem Leithammel folgen und bestenfalls nacheifern.
http://www.blick.ch/news/wirtschaft/vontobel/warum-reiche-reicher-werden-id1841769.html

So einfach dürfte es nicht sein. Einerseits folgen diejenigen, die gemäss Vontobels Theorie die Rolle der Leithammel spielen, ja nicht einfach irgendwelchen festen Ritualen wie Leithammel beim Kampf um die Führungsposition in der Herde. Vielmehr lassen sie sich durchaus einiges einfallen, um mit neuen Produkten, Verkaufsmethoden oder Finanzinstrumenten am Markt einen Vorteil zu haben. Auch das hat die Finanzkrise eindrücklich genug gezeigt.

Andererseits folgen bei weitem nicht alle brav den Leithammeln, sondern es gibt sehr viele ganz unterschiedliche Strömungen in der modernen Gesellschaft, die man nicht einfach über einen Kamm scheren kann. Vor allem orientieren sich die meisten Leute bei ihren Entscheiden nicht ausschliesslich an wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern auch an Gefühlen, Werten (z.B. Solidarität), Überzeugungen usw.

Recht hat Vontobel insofern, als das Nützlichkeitsprinzip tatsächlich viel zu plump ist, um das wirtschaftliche Handeln der Menschen angemessen zu erklären. Allerdings bringt es nichts, die jahrhundertealte grobe Vereinfachung durch ein auch nicht eben furchtbar "neues" und vor allem ebenso plumpes Prinzip zu ersetzen.

Die Frage ist auch nicht, ob die Wirtschaft sich selbst steuert, wenn ihr die Politik nicht dreinredet - das tut sie nämlich sehr wohl: die Stärkeren setzen sich dann einfach durch. Das ist genau so wie in der Natur. Die Frage ist, ob wir Menschen das so wollen. Und wie wir reagieren, wenn das Recht des Stärkeren - ohne Regulierung durch die Politik - konsequent auf die Spitze getrieben wird.

Ein Blick auf die Weltpolitik und die Geschichte zeigt: Wenn die Ungleichheit zu gross wird, suchen die Menschen irgendeine Form des Ausgleichs. Bietet die Politik eine "zivilisierte" Möglichkeit dazu an, z.B. indem auf demokratischem Weg Gesetze erlassen werden, die die schlimmsten Auswüchse einschränken, dann wird diese Möglichkeit auch genutzt. Ist das politische System dagegen so erstarrt, dass Veränderungen auf diesem Weg nicht möglich sind, dann steigt der Druck so lange an, bis es zu einer gewaltsamen Veränderung kommt, wie letztes Jahr in Nordafrika (Aegypten, Tunesien, Libyen) oder vor gut zweihundert Jahren in Europa (Französische Revolution, Helvetische Revolution 1798).

Bei der Revolutionsvariante gibt es in aller Regel viele Tote, grosse Zerstörungen und meist auch neue Ungerechtigkeit; nur in den seltensten Fällen entsteht direkt nach einer Revolution eine stabile und gerechte neue Gesellschaftsordnung, kurzum: es gibt fast nur Verlierer. Das wissen auch die meisten Leute - so dumm wie Herdentiere, wie Vontobel unterstellt, sind sie nämlich nicht. Revolutionen gibt es deshalb nur dort, wo sehr viele Leute (fast) nichts mehr zu verlieren haben.

Vergleicht man die heutige Wirtschaft mit einer Klimaanlage, dann würde die Variante "Verelendung und Revolution" etwa dem Versuch entsprechen, mit einem Vulkan zu heizen. Zuerst wird es unerträglich heiss, dann kommt es zur Explosion und die in die Luft geschleuderte Asche verdunkelt die Sonne, es kühlt wieder ab - bis zu dem Punkt, wo es im Sommer schneit und im nasskalten Wetter alles verfault. Nicht eben das, was man von einer "Klimaanlage" erwarten würde.

Die mittelschwache "Regelung" der Wirtschaft wie wir sie in Westeuropa ungefähr seit dem zweiten Weltkrieg  erleben, liesse sich dagegen mit einem Kachelofen vergleichen, bei dem tüchtig eingeheizt wird, bis die ganze Wohnung überhitzt und die Luft total stickig ist (Hochkonjunktur, Arbeitskräftemangel). Dann reisst man die Fenster auf und lässt die Wohnung wieder abkühlen, bis alle frieren (Rezession, Arbeitslosigkeit). Und so geht das von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus. Auch noch nicht ganz das, was wir als angenehmes Raumklima empfinden. Aber immerhin wesentlich besser als beim Vulkan, um im Bild zu bleiben.

Die Heizungstechnik zeigt allerdings, dass man auch feiner regeln kann, wenn man a) will und b) sich ordentlich um die Verfeinerung der Regeltechnik bemüht. Vielleicht gelingt es den Ökonomen ja im 21. Jahrhundert, bei der Steuerung der Konjunktur einen wesentlichen Schritt vorwärts zu kommen. Derzeit sehe ich allerdings schon bei Punkt a), beim Willen, wenig ermutigende Anzeichen. Aber das kann sich ja noch ändern, oder in der Managersprache ausgedrückt: es ist noch sehr viel Potenzial vorhanden.